Momo und die Zeit
Autorin: Dr. Kareen Seidler
Was verbindet Ihr mit dem Kinderbuchklassiker „Momo“?
Bei mir ist das vor allem das Wort Zeit. Und viele Konzepte und Glaubenssätze, die damit verbunden sind. Verständlicherweise hat sich mein Verhältnis zu diesen Glaubenssätzen im Laufe der Zeit geändert. Als ich als Grundschülerin zum ersten Mal „Momo“ las, waren meine Freundinnen und ich zutiefst beeindruckt von dieser wunderbaren, fantasievollen und spannenden Geschichte. Und wir waren der festen Überzeugung, man dürfe niemals sagen „Wir müssen Zeit sparen“ oder „Ich habe keine Zeit“. Denn genau das ist ja ein großes Thema dieses Buches.
Dort stehlen nämlich die dubiosen (und aus Kindersicht wirklich furchterregenden) grauen Herren den Menschen die Zeit. Sie überzeugen die Leute, Zeit für die Zeitsparkasse zu sparen. Und die Zeit, die die Menschen auf diese Weise „sparen“, ist Zeit, die sie z. B. normalerweise damit verbringen, ihre alte Mutter zu besuchen oder mit ihren Kindern zu spielen. Im Buch wird die Zeit sichtbar in Form von Stundenblüten. Diese Stundenblüten sammeln die grauen Herren, trocknen sie – und rauchen sie als Zigarren! Wie gesagt, furchterregend.
Zum Glück – Spoiler! – gelingt es dem Mädchen Momo schließlich, mit Hilfe von Meister Hora, dem Hüter der Zeit, und seiner Schildkröte Kassiopeia (die eine halbe Stunde in die Zukunft schauen kann), die grauen Herren zu besiegen und den Menschen ihre geklaute Zeit zurückzugeben. Denn Momo ist anders als alle anderen. Sie hat unendlich viel Zeit, für alle. Bekanntlich haben Kinder ohnehin ein ganz anders Zeitgefühl als Erwachsene – oder genauer gesagt, gar keins. Aber Momo ist natürlich auch ein ganz besonderes Kind: Sie hat keine Familie, sie weiß nicht, wie alt sie ist („Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer schon da.“) und sie kann sehr gut für sich selbst sorgen.
Damals in der Grundschule schworen meine Freundinnen und ich uns, nie in unserem Leben Zeit zu „sparen“ und sie den grauen Herren in die Hände zu spielen. Aber nun, als Erwachsene benutze ich – oh Graus! – diese bösen Wörter tatsächlich. Und gar nicht so selten. Ich sage Dinge wie „Das passt in meinen Zeitplan“ oder „Tut mir leid, ich kann jetzt nicht mit dir spielen, ich habe keine Zeit“ oder „Komm, wir müssen uns beeilen, wir haben nicht viel Zeit“. Und manchmal denke ich bei solchen Sätzen an mein 10-jähriges Ich zurück und wie enttäuscht es wohl von mir gewesen wäre… Aber so ist es nun mal, mit dem Erwachsenwerden. Wir müssen uns plötzlich mit Sachen wie Versicherungspolicen oder Umsatzsteuervorauszahlungen beschäftigen. Unsere Zeit ist eng getaktet und verplant – aber deswegen eigentlich nicht weniger wertvoll, oder?
Manchmal versuche ich, mir das bewusst zu machen. Zeit ist kostbar, also überlege ich gelegentlich:
Was will (und kann) ich mit meiner Zeit anfangen?
Wofür nehme ich mir Zeit?
Wem schenke ich meine Zeit? (Und wem nicht?)
Und ich versuche – so banal das klingt – meine Zeit manchmal ganz bewusst zu genießen: einen guten Kaffee, Sonnenstrahlen im Gesicht, ein interessantes Gespräch.
Ein weiteres, wunderbares Beispiel aus diesem Buch kommt von Momos Freund, dem alten Beppo Straßenkehrer. Momo hat nämlich noch eine besondere Eigenschaft: Sie kann sehr gut zuhören. Hier eine besonders schöne Passage:
Und da [Momo] auf ihre besondere Art zuhörte, löste sich seine [Beppo Straßenkehrers] Zunge, und er fand die richtigen Worte.
„Siehst du, Momo“, sagte er dann zum Beispiel, „es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.“Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: „Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedesmal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.“
Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“
Wieder hielt er inne und überlegte, eher er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“
Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort. „Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.“ Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: „Das ist wichtig.“[1]
Beppos Gedanken zu seiner Arbeit könnten auch gut in manche Beraterliteratur für die Optimierung von Arbeitsabläufen und Zeitmanagement passen: „Man muss nur an den nächsten Schritt denken.“ Oder: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut.“ Und heute würde man vielleicht sagen, Beppo arbeitet im Flow…
So kann ein Kinder- bzw. Jugendbuch uns manchmal neue Perspektiven entdecken lassen, auf scheinbar altbekannte Konzepte wie die Zeit. Denkt vielleicht bei Gelegenheit auch einmal darüber nach, welches Verhältnis Ihr zur Zeit habt, diesem kostbaren Gut, wie Ihr sie schätzen gelernt habt – und wo Ihr es vielleicht schafft, keine Zeit zu sparen…
Mein 10-jähriges Ich wäre sicher begeistert.
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[1] Michael Ende, „Momo“, Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg, 1983 [1973], 36-37.